Schwerstarbeit mit Zerbrechlichem - Text über Ausstellung WEISSES GOLD

Schwerstarbeit mit Zerbrechlichem - Maßnahmen gegen das Verschwinden

Eine im Winter 2010 erschienene Briefmarke würdigt “300 Jahre Porzellanherstellung in Deutschland”. Der Ausschnitt aus einem Gemälde von Paul Kießling (um 1708) zeigt Johann Friedrich Böttger, der unter dem huldvollen Blick August des Starken die Entstehung von Porzellan demonstriert und zelebriert. Zwei Gehilfen bezeugen außerdem das Ereignis und bringen zum Ausdruck, was August in seiner Herrscherwürde sich verkneifen muss: grenzenloses Staunen! Aus Erde, Wasser, Feuer und Luft konnte Böttger einen weißen, aber “durchscheinenden Scherben” generieren, die Grundlage für eines der bedeutendsten Kulturgüter.

Welcher Schritt der Herstellung im Gemälde dargestellt wird, wo der Hersteller ein weißes Pulver in einen Tiegel rieseln zu lassen scheint, würde Susanne Neumann sagen können. In Waldsasssen aufgewachsen, in Nordbayern, nahe der Grenze zu Tschechien, war die Porzellanfabrik Bareuther/Gareis von Kind an ein selbstverständlicher Teil ihres Lebens. Familienangehörige, Eltern von Freunden, Nachbarn arbeiteten dort und man betrachtete Porzellan als unverzichtbar. Sein Wert stand außer Frage. 130 Jahre lang.

Den größten Gegensatz zu dieser Einschätzung bildet ein Foto, das Susanne Neumann mir schickte, und das ich nicht zu deuten wusste. Ich meinte, einen riesenhaften Berg entsorgter Waschbecken darauf zu erkennen, die sich aus einem Fenster, oder einer aufgeplatzten Mauer in einen Hof ergossen. Es handelte sich aber um den Beginn der Abrissarbeiten in der Porzellanfabrik Bareuther/Gareis.

Was für die meisten Bewohner der Region einmal unvorstellbar war, wird im Internet pragmatisch und lapidar formuliert. Ein Foto der halb zerstörten Fabrik ist dort schlicht untertitelt mit “Porzellanfabrik 2006”, und das journalistische Resumée des Abrisses lautet: “Im Frühjahr 2006 entstand hier ein attraktives Einkaufszentrum”.

Susanne Neumann verdanken wir nun einen Blick in die Vergangenheit. In der Presse war von der “Rückkehr in einen industriellen Kontext” die Rede als sie 2010 die Fragmente und Fundstücke, die sie buchstäblich in letzter Minute noch bergen konnte, in einer Industriehalle ausstellte.

Etwa ein Tausendstel des noch vorhandenen Materials habe sie mitnehmen können, berichtet sie, und vermittelt damit eine Vorstellung von den ungeheuren Mengen an Formen und Gussmodellen, die in der stillgelegten Fabrik zurückgeblieben waren zu vermitteln.

Diese Installation handelt also vom Verschwinden. Die geborgenen Stücke sind Teile eines größeren Zusammenhangs, sie verweisen auf etwas nicht mehr Vorhandenes. Man kann zwar über Vergangenes sprechen, aber die Vergangenheit bleibt abwesend.

Die Hohlformen für Geschirrteile – so genannte Produktions- und Arbeitsformen, die Neumann als die „Seele des Porzellans“ bezeichnet - tragen das Negativ in sich. Die Formen sind sinnlich erfahrbar. Das darin gegossene Objekt nicht. Somit werden die Formen zu einer Vergegenständlichung des Phänomens Erinnerung.

In dieser Dichotomie bewegt sich Susanne Neumann mit dem festen Schritt und dem erfahrenen Blick eines Scouts, der ein Gelände sondiert und mit dem zupackenden Griff einer praktisch denkenden Frau, wenn sie den Abtransport der ausgewählten Objekte in einem Sechstonner organisiert. Zu logistischem Vermögen und Entschlusskraft gesellt sich aber ein Sinn für das Zauberhafte.

Als Susanne Neumann die Hallen zum ersten Mal betrat hatte sich ein feiner, gleichmachender Staub auf alles gelegt. Das Auswählen (“Eine Kanne im Staub ist interessanter als ein Teller”) und Aufheben der Objekte sei wie das Anheben eines Netzes gewesen. Weniger fein war dann das Hinaustragen zentnerschwerer Kisten und die Zwischenlagerung in diversen Kellern und Garagen bis zu dem Tag, an dem für eine Ausstellung alles wieder hervorgeholt, transportiert und neu arrangiert wurde.

Es gibt goldene Objekte - Messinggriffe für Etageren - die Neumann an Fäden von der Decke hängen lässt. Ein feines Klingeln ertönt, wenn sie aneinander stoßen. Damit erinnern sie an den Raum voller fliegender Schlüssel, den man in einer Verfilmung von Harry Potter bewundern konnte. Und als Meraviglien”, als „Wunderdinge“ also, bezeichnet Susanne Neumann die Fundstücke auch, wundersam und bestaunenswert. In dem Begriff ist auch die Verwunderung enthalten, über die Veränderungen, die stattgefunden haben.

Neben den Objekten, die bei der Produktion von Tellern, Tassen, Kannen und Servierplatten benötigt werden, hat Susanne Neumann auch Dokumente an sich genommen, Ein Stuhl, auf dem ein Arbeiter jahrelang gesessen hat, ist ihr ebenso kostbar wie ein Sammelteller mit Weihnachtsmotiven, denn sie dokumentiert nicht nur ein Stück Industriegeschichte, sie zeigt auch, dass zahllose individuelle Geschichten darin enthalten sind. Der hehre Begriff “Tradition” ist oft an unscheinbaren, geradezu kläglichen Dingen ablesbar, an einem Tässchen oder dem Deckel einer Kanne. In einem Buch wurde die Arbeitsplatzübergabe jeweils sorgsam aufgezeichnet wurde, begonnen am 1.April 1960. In Notizheften der “Ofenwache” mussten die Produktionsschritte penibel dokumentiert werden. 33 Jahre lang wurde auf äußerste Genauigkeit geachtet und dann wird so ein fehlerfreier Report von einem Monat zum anderen ganz und gar überflüssig.

Leere Stühle, leere Garderobenschränke, leeres Verpackungsmaterial, Spuren von Menschen, Spuren tätigen Lebens. Dass Menschen Spuren hinterlassen, dass das Leben schwindet und Dinge übrig bleiben, weiß man aus der Archäologie. Parallelen zu archäologischen Ausgrabungen sind der Künstlerin bewusst, wenn sie ihre Fundstücke aus der Porzellanfabrik auslegt. Mit ihrer Kunst sensibilisiert sie dafür, dass es eine Vergangenheit gibt, deren Spuren noch vorhanden und lesbar sind, dass dieses Wissen jedoch immer wieder realisiert werden muss. Was für ein aufwändiges beschwerliches Unterfangen dies ist, macht uns Susanne Neumann mit ihrer Bergungsarbeit deutlich.

Auch die Künstler der „Spurensicherung“ setzten archäologische Methoden ganz bewusst ein; sie zitierten sie, wenn sie akribisch gesammelte Fragmente sortierten und konservierten. Dies trug manchmal auch sentimentale Züge. Die Geschwister Götte, deren scherbengroße Spuren Nikolaus Lang sicherte und in mehreren Kisten anordnete, waren tot, ihre Biografien kaum mehr rekonstruierbar und nur noch vorhanden als eine Erinnerung des Künstlers.

Susanne Neumann privatisiert ihre Fundstücke nicht. Die ästhetisch formale Präsentation des Auslegens führt die Objekte zwar vor, aber indem Neumann sie mitschleppt, lagert und wieder präsentiert, sind sie mehr als Konserven von Vergangenem: sie dürfen noch eine Weile „mitspielen“.

Barbara Räderscheidt, Künstlerin und Kunstvermittlerin, Köln